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Freitag, 4. Januar 2019

GESCHRIEBEN VON CHRISTIAN WIPPERFUERTH » KOMMENTIEREN » INF: Rüstungskontrollvertrag vor dem Aus? Die USA werfen Russland seit 2014 öffentlich eine Vertragsverletzung vor und haben Moskau ein Ultimatum gestellt, das Anfang Februar 2019 abläuft.



INF: Rüstungskontrollvertrag vor dem Aus?

Die USA werfen Russland seit 2014 öffentlich eine Vertragsverletzung vor und haben Moskau ein Ultimatum gestellt, das Anfang Februar 2019 abläuft.
Russland hat nach US-Angaben seine Streitkräfte mit Marschflugkörpern ausgestattet, die eine Reichweite von bis zu 2.600 km besitzen sollen. Der 1987 abgeschlossene INF-Vertrag verbietet jedoch derartige Systeme mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km. Der Kreml leugnete einige Jahre, dass es diese Marschflugkörper überhaupt gebe, Anfang 2017 gestand er deren Existenz ein. Moskau bestreitet jedoch die von den USA angegebene Reichweite, also einen Vertragsbruch.
Die USA würden vielmehr den INF-Vertrag verletzen, so der Kreml, denn US-Langstreckendrohnen hätten dieselben technischen Merkmale wie verbotene Marschflugkörper. Vor allem könnten die Einrichtungen der Raketenabwehr in Rumänien und in Zukunft außerdem in Polen auch für landgestützte Marschflugkörper genutzt werden. Diese Option werde im offiziellen „Nuclear Posture Review“ der USA vom Februar 2018 ausdrücklich erwähnt, obgleich eine derartige Nutzung gegen den INF-Vertrag verstoße.
Die russischen Vorwürfe sind nach US-Ansicht nicht stichhaltig: Da sie an ihren Standort zurückkehren könne sei eine Drohne kein Marschflugkörper. Sie falle somit nicht unter den INF-Vertrag. Und die Systeme der Raketenabwehr seien aufgrund ihrer Software nur zur Defensive geeignet.
Im Oktober 2018 kündigte US-Präsident Trump auf einer Wahlkampfveranstaltung eher am Rande an, den INF-Vertrag aufzukündigen. Dabei hatten noch im Juli 2018 die NATO-Staaten einmütig festgestellt, der INF-Vertrag sei grundlegend für die Sicherheit Europas, er müsse erhalten werden. Die Ankündigung Trumps war ein plötzlicher Kurswechsel und mit den Verbündeten nicht abgestimmt.
Gleichwohl stellten die Außenminister der NATO-Staaten am 4. Dezember einmütig fest, Russland verletze den INF-Vertrag. Washington hat Moskau daraufhin ein Ultimatum gestellt: Falls sich Russland bis Anfang Februar 2019 nicht wieder vertragskonform verhalte würden die USA den Vertrag aufkündigen. Immerhin erklärte die NATO auf Drängen Deutschlands und Frankreichs, eine wirksame Rüstungskontrolle als „Schlüsselelement“ der Sicherheit im euro-atlantischen Raum erhalten zu wollen und den Dialog mit Moskau zu suchen.
Wie stichhaltig sind die wechselseitigen Anschuldigungen? Die „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“, die dem deutschen Verteidigungsministerium untersteht, schreibt: „Sowohl die US-Vorwürfe an Russland als auch die Gegenvorwürfe aus Moskau lassen sich ohne Kenntnis und Zugang zu der Geheimhaltung unterliegenden Informationen schwer verifizieren oder falsifizieren. Dies ist nur den Vertragspartnern selbst möglich.“ Es würden „letzte Gewissheiten“ fehlen, ob Russland den Vertrag verletze.[i]
Die „Deep Cuts Commission“, die sich aus renommierten amerikanischen, deutschen und russischen Sicherheitsexperten zusammensetzt, stellt fest: Die USA hätten ernsthafte Vorwürfe an Russland, umgekehrt sei dies auch der Fall. Die „Commission“ bemängelt u.a., der Westen zeige keine Bereitschaft auf die russischen Anschuldigungen einzugehen.[ii]
Zusammengefasst lautet die amerikanische Botschaft an Russland und die NATO-Verbündeten: „Glaubt uns, dass die Raketenabwehranlagen in Rumänien nicht offensiv genutzt werden können, dem INF-Vertrag also nicht widersprechen.“ Der deutsche Experte Ulrich Kühn weist darauf hin, dass die Abschussrampen theoretisch jedoch für offensive Marschflugkörper benutzt werden könnten. „Dazu bedarf es, das hat auch die amerikanische Regierung inzwischen zugegeben, lediglich einer Änderung in der Software.“[iii] Und ob die Software lediglich eine defensive Nutzung erlaubt ist nur den USA bekannt.
Den NATO-Partnern erklären die USA: „Glaubt uns, dass die Russen den Vertrag verletzen.“ Die NATO-Partner Washingtons haben am 4. Dezember 2018 zwar festgestellt, dass Russland den Vertrag verletze, aber womöglich deshalb, weil sie von den USA vor vollendete Tatsachen gestellt wurden?
Die Botschaft Moskaus an den Westen wiederum lautet: „Glaubt uns, dass unsere neuen Marschflugkörper vertragskonform sind.“ – Wobei die Glaubwürdigkeit dieser Beteuerung leidet, weil Russland einige Jahre sogar deren Existenz geleugnet hat. – Es könnte allerdings sein, dass der Kreml die Existenz geleugnet hat, weil es sich nach seiner Auffassung letztlich nicht um neuartige Träger handelt. Nicht der Antrieb, sondern lediglich der Kopf des Marschflugkörpers seien modernisiert worden, wie Russland betont …
Es bleiben viele Fragen offen. Wolfgang Richter formuliert es so:
„Es ist nicht hinreichend geklärt, ob und inwieweit es sich bei den wechselseitigen Vorwürfen der Vertragsverletzung um Fehleinschätzungen oder um unterschiedliche Vertragsinterpretationen handelt, die durch technische Zusatzprotokolle oder gemeinsame Erklärungen einvernehmlich entschärft werden könnten.“[iv]
Herr Richter arbeitet für die „SWP“, die aus dem Etat des Bundeskanzleramts finanziert wird.
Gehen wir noch stärker ins Detail: Dan Coats (s. Foto rechts), der Chef aller US-Geheimdienste, erklärte am 30. November 2018:
Russland habe den Marschflugkörper anfänglich von einer festen, bodengebundenen Abschusseinrichtung gestartet. – Dies ist nach dem INF-Vertrag gestattet, wie auch Coats feststellte, obwohl der Flugkörper weit mehr als 500 km zurückgelegt habe. Ein solcher Abschuss ist dann, aber nur dann vertragskonform, wenn es sich um einen bodengebundenen Test für ein Trägersysstem handelt, das see- oder luftgestützt stationiert wird. Falls  ein typengleicher Marschflugkörper jedoch bodengebunden stationiert wird verletzt dies den Vertrag. Und genau dies wirft Washington Moskau vor: „Dann testete Russland“, so Coats, „denselben Marschflugkörper mit einer Reichweite unter 500 km von einer mobilen Anlage“, die landgestützt war. Dies aber untersagt der Vertrag, was unumstritten ist – jedoch nur, falls es sich um einen typengleichen Flugkörper gehandelt haben sollte, was Moskau jedoch bestreitet. Coats fährt fort: „Weil der fragliche Marschflugkörper zuvor über 500 km weit geflogen war halten die USA das gesamte Arsenal für eine Verletzung des Vertrags.” Die USA werfen Russland mit den unterschiedlichen Testverfahren einen absichtlichen und anhaltenden Täuschungsversuch vor (https://www.dni.gov/index.php/newsroom/speeches-interviews/item/1923-director-of-national-intelligence-daniel-coats-on-russia-s-inf-treaty-violation).
Der geschilderte Sachverhalt ist der Kern der amerikanischen Vorwürfe an Russland.
Die USA gehen davon aus, der von der mobilen Anlage gestartete Marschflugkörper sei lediglich mit weniger Treibstoff ausgestattet worden, um unter der 500 km-Grenze zu bleiben. Er sei jedoch grundsätzlich in der Lage, bis zu 2.600 km zu fliegen. Dies jedoch bestreitet Russland: Das Treibstoffsystem der Marschflugkörper verbiete ein solches Vorgehen. Russland hatte einige Tage vor der Erklärung von Coats angegeben, den USA sämtliche technischen Angaben des Marschflugkörpers, einschließlich des Treibstoffsystems, mitgeteilt zu haben. Entsprach dies den Tatsachen? Waren die Angaben hinreichend oder zumindest teilweise überzeugend? Wir wissen es nicht, Coats ging nicht darauf ein.
Pavel Podvig, einer der angesehensten russischen Experten, hält es für wahrscheinlich, dass Russland den Vertrag technisch verletzt habe, aber der Verstoß sei nicht annähernd so schwerwiegend wie von der US-Seite dargestellt und rechtfertige keineswegs eine Vertragskündigung.[v]
Rekapitulieren wir kurz: Sowohl die USA (Raketenabwehrsystem) als auch Russland (Marschflugkörper) behaupten, sich vertragskonform zu verhalten. Die jeweils andere Seite wird aufgefordert, dies zu glauben. Eine Bereitschaft zu Verifikationsmaßnahmen hat keine Seite erkennen lassen.
Der „Spiegel“ berichtete am 30. November[vi], die USA hätten den NATO-Verbündeten „erstmals Beweise“ vorgelegt und „mehrfach ungewöhnlich offen über ihre Geheimdiensterkenntnisse berichtet“. So sei den NATO-Partnern erstmals ein Satellitenfilm gezeigt worden, der die Flugbahn des nach US-Ansicht verbotenen russischen Marschflugkörpers zeigt.
Aber wäre es nicht möglich, dass es sich um seegestützte Marschflugkörper handelte, die mit Hilfe fester Startgeräte getestet wurden? In diesem nicht allzu unwahrscheinlichen Fall gäbe es keinen russischen Vertragsbruch.
Der Spiegel führt fort: „Zudem nannten die USA Unternehmen, die an der Entwicklung und Herstellung der verbotenen Flugkörper und Startvorrichtungen beteiligt sind.“ Die Unternehmen sind jedoch grundsätzlich seit langem bekannt. Sollte nur der Anschein erweckt werden, dass neue Informationen zur Verfügung gestellt wurden oder war dies tatsächlich der Fall? Wir wissen es nicht.
Die Abbildung zeigt eine russische „Iskander“, eine Vorläuferversion des neuen Marschflugkörpers
Die Beobachter rätseln, warum Russland den INF-Vertrag verletzt hat bzw. verletzt haben könnte. Moskau hat bspw. erfolgreich seegestützte Mittelstreckenraketen (die der INF-Vertrag nicht verbietet) in Syrien eingesetzt. Im Gegensatz zu Washington verfügte es über diese Träger bis vor wenigen Jahren praktisch noch nicht. Zudem besitzt Russland ein hohes Interesse daran, den 2021 auslaufenden „Start“-Vertrag mit Washington zu verlängern, der weitreichende Atomwaffen begrenzt. Die Verlängerung ist aber unwahrscheinlich, falls die INF-Vereinbarungen nicht mehr gelten. Warum also sollte Moskau den INF-Vertrag gefährden? – Eine  durchaus mögliche Erklärung wäre: Es gibt in Russland zweifellos Kräfte, die den INF-Vertrag seit langem ablehnen, da er für Russland nachteilig sei (s. http://www.cwipperfuerth.de/2017/08/25/abruestungsabkommen-in-gefahr/). Es ist denkbar, aber nicht wahrscheinlich, dass Russland darum den INF-Vertrag mit Absicht gravierend verletzt.

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