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Mittwoch, 3. April 2019

ie Gründung der NATO war zugleich die lebensbejahende Antwort des Westens auf Josef Stalin, der sich anschickte, aus Europa einen sowjetischen Vasallenkontinent zu schmieden. Das NATO-Bündnis – mit seinen ökonomischen Ressourcen und seinen ideellen Werten – trotzte dem Warschauer Pakt und seiner Idee eines „Sozialismus der Galgen“, wie Albert Camus sich ausdrückte


Gabor Steingart - Das Morning Briefing
04.04.2019
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Guten Morgen Rolf Koch,
der Zweite Weltkrieg hat in einer großen, schmerzhaften Presswehe den modernen Westen hervorgebracht. Mit der Gründung der NATO, heute vor genau 70 Jahren, wurde dem schutzlosen Neuen, dem noch unförmigen und undeutlichen Etwas, die Geburtsurkunde ausgestellt.
Die Gründung der NATO war zugleich die lebensbejahende Antwort des Westens auf Josef Stalin, der sich anschickte, aus Europa einen sowjetischen Vasallenkontinent zu schmieden. Das NATO-Bündnis – mit seinen ökonomischen Ressourcen und seinen ideellen Werten – trotzte dem Warschauer Pakt und seiner Idee eines „Sozialismus der Galgen“, wie Albert Camus sich ausdrückte.
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Zu verdanken hat die NATO ihre Feuer- und damit Lebenskraft den USA, damals wie heute. Über 3,2 Millionen Soldaten, 18.115 Panzer, 21.125 Kampfjets und 1.799 Kriegsschiffe verfügen die NATO-Staaten – rund 40 Prozent davon stellen die Vereinigten Staaten. Hinzu kommt gewissermaßen als Premium-Waffe die Atombombe. 150 Stück haben die USA zur nuklearen Abschreckung in Europa – auch in Deutschland – stationiert.
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Von Zeit zu Zeit wird die Botschaft der Abschreckung auch praktisch erneuert. Wer sich mit einem oder mehreren NATO-Staaten anlegt – wie zuletzt Slobodan Milošević, Osama bin Laden, Saddam Hussein oder Mohammed Gaddafi – wird seines Lebens nicht mehr froh. Das war nie schön, aber immer wirkungsvoll. Der Westen verdankte seine Existenz stets beidem: seinen Werten und seiner Wehrhaftigkeit.
Diese Dualität trägt offenbar nicht mehr. Amerika ist unwillig, Deutschland unfähig, die dafür getroffenen Verabredungen einzuhalten. Außenminister Heiko Maas versprach zwar gestern in Washington: „Auf Deutschland ist Verlass.“ Aber jeder weiß, dass Merkels Versprechen, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben, längst kassiert wurde. Es gibt keine Haushaltsplanung, die zu diesem Ziel führt. Die Große Koalition ist nicht bereit, die militärische Respekt-Rente zu zahlen.
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Über den Geburtstag der NATO und die Bedeutung dieses Nicht-Angriffspakts für den Westen habe ich im Morning Briefing Podcast mit der ehemaligen Korrespondentin des „Stern“ in Washington und Moskau, Katja Gloger, gesprochen. Sie sagt:
Glückwünsche sind angebracht. 70 Jahre alt zu werden ist generell eine reife Leistung; für ein Verteidigungsbündnis und ein politisches Bündnis wie die NATO ohnehin. 29 Mitglieder, fast eine Milliarde Menschen und 50 Prozent der Wirtschaftskraft der Welt – das ist eine Ansage.
Zugleich fordert sie uns auf, die aktuellen Schwierigkeiten ernst zu nehmen:
Die NATO befindet sich in einer Identitätskrise. Trumps Kritik an der NATO, vor allen Dingen an den Deutschen, ist ein Symbol dafür, das die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Rolle als Führungsmacht neu definieren wollen.
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Mittlerweile hat ein Denken über die NATO hinaus eingesetzt. Zwei Konzepte ringen um Anerkennung:

Das erste ist das von Professor Joseph Nye ausformulierte Konzept der „Soft Power“: die von Trump-Vorgänger Barack Obama genutzte Strategie des kulturellen Austausches und der diplomatischen Annäherung. Europa ist heute ein militärischer Zwerg, aber ein Soft-Power-Riese.Das zweite Konzept beruht auf der kunstvollen Architektur eines weltweiten Sanktionsregimes, das den Angreifer daran hindern soll, seine Angriffspotenziale überhaupt ausbauen zu können. Die bevorzugte Waffe des aktuellen US-Präsidenten ist bisher nicht das Maschinengewehr, sondern der Werkzeugkasten der ökonomischen Daumenschrauben.
„Sanktionen können im besten Falle den Krieg verhindern“, sagt John E. Smith, der elf Jahre in Diensten des Office of Foreign Assets Controldes US-Finanzministeriums stand, das die Einsetzung und Ausführung dieser Sanktionen vorschlägt und überwacht. Sein Schreibtisch stand nur wenige Meter vom Oval Office entfernt. Smith war einer der bestbewachten Männer der Administration. Er hat während seiner Laufbahn zwei demokratischen und zwei republikanischen Präsidenten gedient, zuletzt Donald Trump.
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Heute arbeitet Smith als Partner der US-Großkanzlei „Morrison Foerster“ und berät Firmen, die immer wieder Schwierigkeiten haben, das Sanktionsregime der USA zu verstehen und einzuhalten. Allein die Commerzbank wurde wegen eines Verstoßes gegen die Iran-Sanktionen zu 1,45 Milliarden US-Dollar Strafe verurteilt. Für den Morning Briefing Podcast  habe ich mit John E. Smith über das Sanktionsregime der USA gesprochen. Er sagt:

Sanktionen sind die Alternative zwischen Worten und Krieg, zwischen dem Einsatz diplomatischer Instrumente und dem Einsatz von Waffen.
Vor allem deutsche Firmen haben immer wieder unbeabsichtigt und zum Teil auch in voller Absicht das Sanktionsregime unterlaufen. Ich weiß, es ist riskant, das vor einem deutschen Publikum zu sagen, aber ich sage es dennoch: Da ist Raum für Verbesserungen. Deutsche Firmen müssen darauf achten, dass sie mit den Buchstaben und dem Geist des internationalen Sanktionsregimes übereinstimmen.
Prädikat wertvoll: Das Konzept und die Aussagen dieses Mannes.
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